Auch wenn Europa die schlimmste Phase der pandemiebedingten Ungewissheit überwunden haben mag, bleibt die Investmentlandschaft schwierig. In vielerlei Hinsicht befinden wir uns mitten in einem perfekten Sturm.
Einem Sturm, der durch eine geballte Ladung geopolitischer Spannungen, volatiler Renditen, steigender Zinsen und Rezessionsgefahren entfacht worden ist. Für die Versicherer dürften die weitreichenden Auswirkungen der Inflation auf ihre Geschäftsgrundlagen die größte Herausforderung darstellen.
In diesem Artikel untersuchen wir die spezifischen Risiken, denen Versicherer auf beiden Seiten ihrer Bilanz ausgesetzt sind. Außerdem skizzieren wir eine Reihe potenzieller kurz- und längerfristiger Probleme und erläutern, warum viele Versicherer jetzt von einer Ausweitung ihrer traditionellen Asset Allokation auf alternative Anlageklassen profitieren könnten.
Ein herausforderndes Umfeld
Die COVID-19-Pandemie und die von ihr ausgelösten außergewöhnlichen fiskal- und geldpolitischen Maßnahmen haben zum ersten erheblichen und anhaltenden Kaufkraftverlust des 21. Jahrhunderts geführt. Die Inflation hat in der ganzen Welt Einzug gehalten. In einigen Ländern ist sie so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr.
Die Auswirkungen in Europa sind gravierend, aber ungleich verteilt. Im Juli lag die jährliche Inflationsrate in der Europäischen Union (EU) nach den offiziellen EU-Statistiken bei 9,8%, gegenüber 2,5% ein Jahr zuvor. Am niedrigsten war die Inflation in Frankreich und Malta mit 6,8%, am höchsten in Estland mit 23,2%1.
Besondere Aufmerksamkeit hat die Situation in Großbritannien erregt: Einer Prognose zufolge könnte die Inflation hier bis Januar 2023 auf über 18% klettern.2 Die Bank of England, die im Frühjahr noch damit gerechnet hatte, dass die Inflation im vierten Quartal 2022 mit 10% ihren Höchststand erreichen würde, hat diese Zahl im August auf 13,3% korrigiert und eine Rezession prognostiziert.3
Natürlich werden die Preise nicht dauerhaft so stark steigen. Historische Analysen des Zusammenhangs zwischen dem Geldmengenwachstum und der Inflation signalisieren, dass die schwerwiegendsten Auswirkungen der Inflation im Allgemeinen zwölf bis 24 Monate lang zu spüren sind.4
Dennoch müssen Anleger aller Art ihre Portfolios vor den negativen kurz- und langfristigen Folgen der Geldentwertung schützen. Das gilt auch für Versicherer.
Die Inflation aus Sicht der Versicherer
Die Versicherungsbranche ist aus verschiedenen Gründen ungewöhnlich anfällig für die Inflation. Fast alle Vermögenswerte der Versicherer werden – direkt oder indirekt – von den Inflationserwartungen beeinflusst. Das gilt für Lebensversicherer genauso wie für Sachversicherer.
Viele Versicherungsverbindlichkeiten sind ebenfalls direkt oder indirekt mit der Inflation verknüpft – künftige Verwaltungsausgaben zum Beispiel oder Restschuldforderungen, Leibrenten oder Krankenversicherungs-/Rechtsansprüche.
Im Gegensatz zu vielen anderen Marktrisiken kann ein Anstieg der Inflationserwartungen daher beide Seiten der Bilanz eines Versicherers in Mitleidenschaft ziehen. So kann eine hohe Inflation zu einem Rückgang der Vermögenswerte und einem gleichzeitigen Anstieg der Verbindlichkeiten führen.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen der Inflation und anderen Marktrisiken, denen Versicherer ausgesetzt sind, besteht darin, dass die Inflation oft teilweise verschleiert wird. Beispielsweise kann sie an eine bestimmte Komponente der versicherungstechnischen Rückstellungen und nicht an eine allgemein verwendete Benchmark wie den Einzelhandelspreisindex oder den Verbraucherpreisindex (VPI) gebunden sein.
Darüber hinaus messen viele Versicherungsgesellschaften die Inflation nur indirekt. Selbst unter Solvency II werden die mit der Geldentwertung verbundenen Risiken nicht direkt berücksichtigt, da das Regelwerk keine spezifischen Kapitalanforderungen für das Inflationsrisiko enthält.5