Insight

Steht der Welthandel vor einer Ära der ‚protektionistischen Selbstjustiz‘?

Steht der Welthandel vor einer Ära der ‚protektionistischen Selbstjustiz‘?
Angesichts der fundamentalen Krise, auf die die Welthandelsorganisation (WTO) zusteuert, könnten immer mehr Länder in Handelsfragen künftig im Alleingang handeln.

Ich bin in den 1980er Jahren im Großraum New York aufgewachsen. Da mein Vater immer die Boulevardzeitungen las, tat ich das ebenfalls. Dort erfuhr ich das erste Mal von einem faszinierenden Phänomen — dem der „Guardian Angels“ („Schutzengel“). Dabei handelte es sich um eine groß angelegte Bürgerinitiative, für die besorgte Bürger in auffälligen Uniformen mit knallroten Baskenmützen in den Bahnhöfen der New Yorker U-Bahn und anderen öffentlichen Bereichen auf Streife gingen, um in einer vermeintlich gesetzlosen Zeit in New York Verbrechen zu verhindern. Anfangs bezeichneten die Boulevardzeitungen die Guardian Angels als „Bürgerwehr“, die „das Gesetz in die eigene Hand nimmt“. Heute erinnert die Gruppierung daran, wie chaotisch es damals in New York zuging.

In letzter Zeit haben die schlagzeilenträchtigen Meldungen von der Handelsfront bei mir Erinnerungen an die Guardian Angels wachgerufen. Auch der Welthandel scheint zunehmend im Chaos zu versinken und auf eine Ära der „protektionistischen Selbstjustiz“ zuzusteuern, in der Länder das Gesetz in die eigene Hand nehmen. Warum glaube ich das? Weil diese Woche vermutlich als die Woche in die Geschichtsbücher eingehen wird, in der die Welthandelsorganisation (WTO) handlungsunfähig wurde.

Die WTO in der Existenzkrise

Zum Hintergrund: Als die WTO vor mehr als 20 Jahren gegründet wurde, erhielten die USA ein Vetorecht bei Ernennungen ins siebenköpfige WTO-Schiedsgericht. Seit einigen Jahren nutzen die USA dieses Vetorecht nun als Waffe und blockieren die Nachbesetzung freiwerdender Posten in diesem Gremium. An diesem Dienstag könnten die USA die WTO damit schachmatt setzen: Das Mandat von zwei der drei noch verbliebenen Berufungsrichter — der Mindestanzahl, um Urteile fällen zu können — endet heute. An dieser Stelle sei festzuhalten, dass die WTO viele Fehler hat und die USA mit Recht auf eine grundlegende Reform der Institution drängen. Die Ernennung von Streitschlichtern zu blockieren ist allerdings kein Ansatz, den ich in diesem Zusammenhang empfehlen würde. Damit könnte die WTO keine bindenden Entscheidungen mehr treffen und würde de facto funktionsunfähig.

Wie würde es dann weitergehen? Die WTO könnte weiterhin Streitschlichtungsverfahren führen, aber keine Urteile durchsetzen, da die Länder ein Recht auf Berufung haben — sollte ihnen eine Entscheidung nicht passen, könnten sie ihre Umsetzung auf unbestimmte Zeit hinauszögern, indem sie in die Berufung gehen. Ich glaube daher, dass wir am Beginn einer Ära der „protektionistischen Selbstjustiz“ stehen, in der immer mehr Länder an traditionellen Institutionen wie der WTO vorbei agieren und eigenmächtig ihre eigenen Handelsinteressen verfolgen. Größere Wirtschaftsmächte dürften ihr Gewicht zum Nachteil kleinerer und aufstrebender Volkswirtschaften in die Waagschale werfen. Ich glaube, dass diese Demontage der WTO zu einer weiteren Eskalation der seit mehreren Jahren schwelenden Handelsspannungen führen und damit naturgemäß auch eine Umkehr der Globalisierung befördern würde.

Die Handelskonflikte weiten sich aus

Investoren müssten sich auf noch stärkere Auswirkungen der Handelskonflikte einstellen. Welche Spuren diese an den Märkten hinterlassen, war in der vergangenen Woche deutlich zu sehen. Anfang der Woche gab US-Präsident Donald Trump zu verstehen, dass er ein Handelsabkommen mit China möglicherweise erst nach der Präsidentschaftswahl 2020 weiterverfolgen würde. Daraufhin brachen die Aktienkurse ein, bevor sie sich durch Chinas Ankündigung, von Strafzöllen auf amerikanische Sojabohnen und Schweinefleisch abzusehen, zum Wochenausklang wieder erholten. Es ist aber immer noch denkbar, dass Trump nach Ablauf der von ihm selbst gesetzten Frist am 15. Dezember weitere Zölle verhängt. Auch besteht eine nennenswerte Wahrscheinlichkeit, dass es den USA und China 2019 nicht mehr gelingt, sich auch nur auf ein „Phase 1“-Teilabkommen zu einigen. (Und selbst wenn es ihnen gelänge, würden sie damit nur an der Oberfläche ihrer Streitthemen kratzen.)

Trump hat in der vergangenen Woche auch neue Zölle auf brasilianische und argentinische Stahlimporte angekündigt. Und auf die Besteuerung amerikanischer Technologieunternehmen in Frankreich hat Trump bereits mit der Ankündigung von Zöllen auf französische Importwaren – u.a. Wein – im Wert von bis zu 2,4 Milliarden US-Dollar reagiert.

Können die Zentralbanken helfen?

Mit der weiteren Eskalation der Handelskonflikte dürfte auch die protektionistische Selbstjustiz zunehmen. Je länger diese Situation andauert, desto größer könnte der Schaden für den Freihandel und das globale Wachstum sein — seine volle Tragweite aber wird nur allmählich deutlich werden. Die gute Nachricht ist, dass die Zentralbanken gewillt zu sein scheinen, ihre Geldpolitik weiter zu lockern, falls sich die Handelsproblematik nochmals erheblich verschärfen sollte. Auch wenn das der Wirtschaft vielleicht nur wenig helfen wird, könnte es für gute Unterstützung für Risikoanlagen sorgen.

Dabei ist wichtig festzuhalten, dass die Demontage der WTO keine sofortigen negativen Auswirkungen auf die Märkte haben dürfte. Sie könnte zu stärkeren Kursausschlägen an den Aktien- und Staatsanleihemärkten führen, sobald Länder beginnen, ihre Handelskonflikte außerhalb der WTO auszutragen. Sie könnte aber auch eine positive Wirkung haben, falls sie die Zentralbanken dazu veranlassen sollte, ihre Geldpolitik aus Sorge über schlechtere Rahmenbedingungen für den freien Handel noch weiter zu lockern.

Ich werde die Sitzung der US-amerikanischen Notenbank (Fed) in dieser Woche genau verfolgen. Ein Zinsschritt ist in dieser Woche zwar nicht zu erwarten, dafür könnte der „Dot Plot“, der Zinsausblick des Offenmarktausschusses der Fed, bessere Hinweise auf die weitere Ausrichtung der Fed-Geldpolitik im Jahr 2020 geben. Noch wichtiger aber wird die Pressekonferenz des Fed-Vorsitzenden Jerome Powell sein, bei der ihm einige Fragen zur Handelssituation gestellt werden könnten und er Andeutungen bezüglich möglicher Fed-Reaktionen auf eine Verschärfung der Lage machen könnte. 

Die ebenfalls in dieser Woche anstehende Sitzung der Europäischen Zentralbank (EZB) werde ich ebenfalls genau verfolgen. Da es sich dabei um die erste Sitzung unter der Leitung der neuen EZB-Präsidentin Christine Lagarde handelt, wird interessant sein, was diese zum aktuellen geldpolitischen Instrumentarium der EZB und seinen abträglichen Auswirkungen zu sagen hat. Mich würden vor allem Signale in Bezug auf die bevorstehende strategische Überprüfung der EZB-Geldpolitik interessieren. Schließlich könnte Lagarde auch etwas dazu sagen, wie die EZB auf eine Verschärfung der Handelssituation reagieren könnte.

Risikohinweis

  • Der Wert von Anteilen kann schwanken. Dies kann teilweise auf Wechselkursänderungen zurückzuführen sein. Es ist möglich, dass Anleger bei der Rückgabe ihrer Anteile weniger als den ursprünglich angelegten Betrag zurückerhalten.

Wichtige Informationen

  • Daten vom 9. Dezember 2019, sofern nicht anders angegeben. Dieses Marketingdokument stellt keine Empfehlung dar, in eine bestimmte Anlageklasse, Finanzinstrument oder Strategie, zu investieren. Das Dokument unterliegt nicht den regulatorischen Anforderungen, welche die Unvoreingenommenheit von Anlageempfehlungen/Anlagestrategieempfehlungen sowie das Verbot des Handels vor der Veröffentlichung der Anlageempfehlung/Anlagestrategieempfehlung vorschreiben. Diese Information dient ausschließlich der Veranschaulichung und ist keine Empfehlung zum Kauf, Halten oder Verkauf von Finanzinstrumenten. Die in diesem Material dargestellten Prognosen und Marktaussichten sind subjektive Einschätzungen und Annahmen des Fondsmanagements oder deren Vertreter. Diese können sich jederzeit und ohne vorherige Ankündigung ändern. Diese Publikation ist nicht Bestandteil eines Verkaufsprospektes. Sie enthält lediglich allgemeine Informationen und berücksichtigt keine individuellen Erwartungen, steuerliche oder finanzielle Interessen.
  • EMEA9315/2019